„Schwestern, vergesst uns nicht!“

Im Zentrum der Veranstaltung steht ein ca. 40-minütiger Film über die beiden anti­faschistischen Widerstands­kämpferinnen Hed Regnart und Hilde Faul-Gerber. In Interviews beschreiben diese ihre politische Arbeit in der Weimarer Republik, den Wider­stand im National­sozialismus, Verfolgung, Haft und Internierung im Frauen­konzentrations­lager Moringen. Für beide war selbst­verständlich „Der Krieg kommt, da müsste man was unternehmen“ …und sie unternahmen etwas. Sowohl Hed Regnart als auch Hilde Faul-Gerber waren im Rahmen der Lager­gemeinschaft KZ Moringen organisiert. Eingerahmt wird der Film durch blitz­licht­artige Informationen und Gedanken zu Frauen, Widerstand und warum Erinnerung so wichtig ist.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

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Wie wollen wir uns erinnern?

Podiumsdiskussion mit Vertreter_innen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Das Göttinger „27. Januar–Bündnis“ und seine jährliche Veranstaltungs­reihe ist seit genau zwanzig Jahren dem Gedenken an die Opfer des National­sozialismus gewidmet. „Sie dürfen nicht vergessen werden“, heißt es in seiner Präambel. Ein Jahr nach dieser Gründung, 1998, tauchte der sog. „National­sozialistische Unter­grund“ (NSU) endgültig ab und begann eine Anschlags- und Mordserie, die allein zehn Menschen das Leben kostete. Heute, 71 Jahre nach dem Ende des Zweiten Welt­krieges, erleben wir eine rasante Diskurs­verschiebung nach rechts, so dass menschen­verachtende Einstellungen immer selbst­verständlicher zu Tage treten.

Auf unserer Podiums­diskussion wollen wir Fragen nach praktischer Gedenk­kultur nachgehen. Es soll darum gehen wie die deutsche (Mehrheits-) Gesellschaft im Zeitverlauf mit Trauer und Erinnerung an ihre Vergangen­heit umging und umgeht. Welche Muster kollektiven Gedenkens lassen sich ausmachen, wenn es um das Vergegen­wärtigen von Geschichte geht? Dazu wollen wir Akteure ganz konkret und praktisch nach ihren Gedenk­konzepten fragen und diese diskutieren. Wir fragen, in welchem Verhältnis das Gedenken an die Opfer des National­sozialismus und das an die Opfer des NSU stehen. Wie kann ein Prozess hin zu einer empathischeren Gedenk­kultur angestoßen werden? Welche Mittel und Wege sollten private und öffentliche Gedenk­initiativen nutzen?

Eine Veranstaltung der Initiative Extrem Daneben und dem AStA der Universität Göttingen in Kooperation mit F_act (ehemals OLAfA)

im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

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„Triumph des guten Willens“

Filmvorführung in Anwesenheit des Regisseurs

Der vorerst letzte Teil der Reihe „Wie erinnern?“ setzt sich filmisch mit den Texten des Publizisten Eike Geisel (1945-1997) auseinander. Im Zentrum stehen Geisels Kritiken an der deutschen Erinnerungs­politik und seine These über die „Wieder­gutwerdung der Deutschen“. Texte Geisels aus den 1990er Jahren, u. a. über die Neue Wache und das Holocaust-Mahnmal in Berlin, kontrastieren die heutigen Bilder der beschriebenen Gedenk­stätten. Sie zeigen eine Normalität, die es eigentlich nicht geben dürfte.

Zudem analysieren ausführliche Interviews mit Alex Feuerherdt, Klaus Bitter­mann, Hermann L. Gremliza und Henryk M. Broder Geisels Thesen in Hinblick auf die gesell­schaftlichen Verhältnisse heute.

Von der politischen Biografie Eike Geisels ausgehend zeichnet Triumph des guten Willens ein Bild erinnerungs­politischer Debatten der letzten Jahrzehnte und fragt schließlich nach der Möglichkeit von Kritik in unmöglichen Zeiten.

Eike Geisel, der in den 1980er- und 1990er-Jahren zu den schärfsten Kritikern sowohl der Wieder­aufbereitung deutscher Vergangenheit als auch des deutsch-jüdischen Verbrüderungs­kitsches gehörte, löste durch seine Essays und Polemiken teils große Kontro­versen aus. Zudem betätigte er sich als Übersetzer und Herausgeber englischs­prachiger Texte Hannah Arendts und trat auch als Verfasser historischer Arbeiten, u. a. über das Berliner Scheunen­viertel und den Jüdischen Kulturbund, in Erscheinung.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

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Abyss

Abyss #1 – Zeitschrift gegen jeden Antisemitismus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Rahmen unserer Mitarbeit im Bündnis „Initiative gegen jeden Antisemitismus“ ist 2016 eine Zeitschrift erschienen. Diese kann hier heruntergeladen werden.

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„Meine Vergangenheit ist schrecklich und sie bringt Dir nichts.“

Lesung und Gespräch mit der Autorin Lizzie Doron (Tel Aviv)
Eine Veranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz

„Du wurdest für die Zukunft geboren, Du musst Neues lernen. Meine Vergangenheit ist schrecklich und sie bringt Dir nichts. Sie hat nichts mit Dir zu tun.“ Mit diesen Worten ihrer Mutter wächst Lizzie Doron, geboren 1953, in einem Stadtteil von Tel Aviv auf, wo sich Shoah-Überlebende aus allen Teilen Europas angesiedelt haben. Ihre Mutter Helena kommt 1949 als einzige Überlebende ihrer Familie nach Israel: „Sie hatte beschlossen, mir nichts zu erzählen, und dabei blieb es.“ Erst viel später, als die Mutter nicht mehr lebt und Lizzie Dorons eigene Tochter nach ihrer Familiengeschichte fragt, wird ihr bewusst, dass sie nichts zu erzählen hat. Aus eigenen Erinnerungsfetzen an Kindheitserlebnisse und Erzählungen anderer verfasst sie zunächst Kurzgeschichten, später Romane. Darin gibt Lizzie Doron jenen eine Stimme, die sie selbst nicht erheben. Sie schreibt über Menschen, die die Shoah überlebten und nun zu leben versuchen. Gleichzeitig spricht sie auch für jene, die als zweite Generation das Schweigen ihrer Eltern nicht verstehen.

Lizzie Doron wird an diesem Abend aus ihren Büchern lesen. Wir sprechen mit ihr über die Geschichte der Überlebenden, deren Schweigen und die Tradierung ihrer Traumata. Wir sprechen über die Erinnerung an die Shoah, wenn die letzten Überlebenden gestorben sein werden.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

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„und brecht mit Eurem Vater“

Lesung und Gespräch mit Niklas Frank

„und brecht mit Eurem Vater“! Diesen Imperativ Jean Amérys an die Kinder der Nazitäter hat wohl kaum jemand in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte so radikal eingelöst wie Niklas Frank. Niklas Frank, geboren 1939, ist der Sohn von Hans Frank, zwischen 1939 und 1945 der Generalgouverneur des besetzten Polen. Hans Frank, „der Schlächter von Polen“, wurde 1946 im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. 1987 veröffentlicht Niklas Frank mit „Der Vater. Eine Abrechnung“ eine minutiös recherchierte, verstörende und schonungslose Auseinandersetzung mit dem Vater. Noch heute trägt Niklas Frank ein Bild des toten Vaters immer bei sich: um jeden Tag sicherzugehen, dass er wirklich tot ist. 2005 folgt mit „Meine deutsche Mutter“ das Buch über die Frau, die den kleinen Niklas mit ins Ghetto nahm, wenn sie von Jüdinnen und Juden die letzten Wertgegenstände erpresste. 2013 vollendet Niklas Frank die Trilogie über seine Familie mit Bruder Norman. Niklas Frank sagt im Interview mit der taz: „Ich habe unsere Familie vor der Öffentlichkeit nackt ausgezogen. Das war absolut nötig, denn wir haben Millionen andere Familien sich ausziehen lassen, bevor wir sie vergast haben.

Niklas Frank liest an diesem Abend aus allen drei Büchern. Wir sprechen mit ihm über die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, die vermeintliche Vergangenheitsbewältigung der deutschen Nachkriegsgesellschaft und die Verantwortung der Kinder- und Enkelgeneration.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

 

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Kundgebung: gegen jeden Antisemitismus!

…in Göttingen, Deutschland, Europa und anderswo…

Am 08. Juli 2014 begann die israelische Luftwaffe als Reaktion auf den zunehmenden Raketenhagel aus dem Gazastreifen mit dem Beschuss von Orten, an denen sie Hamas-Kämpfer vermutete. Kurz darauf versammelten sich weltweit Menschen, um gegen den Krieg zu demonstrieren. Doch zumeist geschah dies sehr einseitig: „Free Palestine“ und „Kindermörder Israel“ waren die meistgehörten Parolen, durch „Allahu Akbar“ erhielten die Demos eine deutlich religiöse, teilweise mit Hamas- und gar Isis-Fahnen auch islamistische Ausrichtung.

Doch dabei blieb es nicht: In Göttingen wurden Demonstrierende, die Israel-Fahnen trugen, aus einer Free-Gaza-Demo heraus angegriffen, in Frankfurt erhielt ein Rabbiner Morddrohungen, in Berlin wurde ein jüdisches Paar bedrängt, in Wuppertal gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge, in Sarcelles, einem Vorort von Paris, wurden koschere Geschäfte angezündet.

Gauck und Merkel zeigten sich betroffen. Doch ihre Rede vom „importierten Antisemitismus“ schürt rassistische Ressentiments und verleugnet, dass Antisemitismus in Deutschland Tradition hat. Antisemitismus zieht sich durch alle Milieus und Bildungsschichten. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem: 51 Prozent der Deutschen sagen, die Israelis machten das Gleiche wie die Nazis (laut Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung).

Angesichts der vielen palästinensischen Toten ist es verständlich, auf die Straße zu gehen, um Wut und Trauer Ausdruck zu verschaffen. Doch müssen die Friedensbewegten sich Kritik daran gefallen lassen, wie und mit wem sie da auf die Straße gehen – das zeigen die Parolen und Ausschreitungen der letzten Wochen. Es gibt kein Tabu, die israelische Regierung zu kritisieren. Doch schaffen es dabei nur die wenigsten, keinen Antisemitismus zu äußern.

Gerade angesichts des unablässigen Raketenhagels auf Israel und der Toten auch auf israelischer Seite, ist es notwendig, eine unversöhnliche Kritik des Antisemitismus der Hamas und der selbsternannten „Israelkritiker_innen“ zu formulieren. Das bedeutet für uns, sich all jenen entgegen zu stellen, die das Existenzrecht Israels direkt oder indirekt in Frage stellen.

Es kann jedoch nicht darum gehen, durch die Rede von den „schlechtintegrierten Muslimen“ den Blick vom allgegenwärtigen deutschen Antisemitismus abzulenken. Rassistische Deutungen lehnen wir entschieden ab.

Auch wenn es in dieser komplexen Lage schwer fällt: Es gilt, sich weder der Ohnmacht hinzugeben noch in identitären Positionen zu verharren, sondern sich trotz aller Anstrengung um einen differenzierten Blick zu bemühen.

Unsere Kundgebung ist der Versuch einer kritischen Praxis gegen Antisemitismus – für den Zweifel und gegen das Bescheidwissen!

Grundproblem der Entwicklungen der letzten Wochen ist: Diese Gesellschaft (und oft auch ihre Kritiker_innen) hat keinen Begriff von Antisemitismus. Es ist nicht jede Äußerung antisemitisch, die sich scheiße anhört, aber es ist viel mehr antisemitisch als gedacht: die Gleichsetzung von Israelis und Juden, die Paranoia um die jüdisch-israelische Medienverschwörung, die Diabolisierung und die NS-Vergleiche in Bezug auf das Handeln der israelischen Regierung, die Annahme niederträchtiger Intentionen Netanjahus, das palästinensische Volk zerstören zu wollen…. Antisemitismus ist nicht irgendwie schlecht formulierte „Israel-Kritik“, sondern eine gewaltsame Ideologie, mit der sich selbsternannte „Gotteskrieger“, Neonazis, Günter Grass und durchgeknallte Linke die Welt erklären. Und sie äußert sich nicht erst dann, wenn Jüdinnen und Juden ausgegrenzt, beschimpft, angegriffen und getötet werden.

Für ein Ende des Leids der Israelis, Palästinenser_innen, Jüdinnen und Juden überall in der Welt!

Free Gaza from Hamas!  //  Gegen jeden Antisemitismus!

https://initiativegegenjedenantisemitismus.wordpress.com/

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„Etwas besser ist nicht gut – Geschlechterverhältnisse. Kapitalismus. Abschaffen.“

Aufruf zur feministischen Demonstration am 30. April 2014 in Göttingen

Global ist zu beobachten: Frauen werden zunehmend in den (Welt-)Markt integriert, ernähren alleine ihre Familien, ohne jedoch eine Chance zur eigenen Existenzsicherung zu bekommen. Gleichzeitig bleiben Frauen maßgeblich für’s Abwaschen, Kinder aufziehen, Putzen und Wäschewaschen verantwortlich – übrigens oft noch mit dem Verweis auf eine vermeintlich „natürliche Fähigkeit“ dazu. Viele Frauen können diese Doppelbelastung von Lohn- und Reproduktionsarbeit nicht bewältigen: Die Verwilderung des Patriarchats treibt ihre Blüten.1

Darüber hinaus sind es zumeist Frauen, die schlechtbezahlt in der Pflege, in der Kita und in der Reinigung arbeiten und dort unter prekarisierten Arbeitsverhältnissen leiden. Nicht selten führen diese Verhältnisse zu Burnouts.

Vor diesem Hintergrund sind Forderungen nach mehr Sozialstaat oftmals nachvollziehbar. Doch selbst wenn der wollte, er kann nix machen. Warum das so ist, kann nur der Blick auf ein größeres Zeitfenster zeigen, als eines von 2007 (dem Ausbruch der sogenannten Finanzkrise) bis heute.

Der Kapitalismus befindet sich seit den 1970er Jahren in einem strukturellen Krisenprozess. Bedingt durch die „mikroelektronische Revolution“ wird die Quelle des Mehrwerts, die Arbeitskraft, immer überflüssiger. Staatliche Intervention in Form aufschiebender Maßnahmen sollte in den 80er und 90er Jahren die Krise abmildern, so die aufkommende Massenarbeitslosigkeit abfedern und die marode Wirtschaft am Laufen halten. Die sogenannten „personenbezogenen Dienstleistungen“ wurden ausgeweitet und Menschen in Produktionsbereichen in Beschäftigung gebracht, in denen Arbeitskraft nicht so leicht zu ersetzen ist – der Pflege, der Erziehung, also allem, was mit Menschen zu tun hat. Heute ist es, seit dem Ausbruch der sogenannten Finanzkrise, sichtbarer denn je, dass eine weitere Verschuldung verheerende Folgen haben könnte, wie die Haushaltskrise in den USA mit ihrem „Shutdown“ zeigte.

Aufgrund dieser Verschuldung zieht sich der Staat zunehmend aus der Versorgung, Pflege und Betreuung, den Kitas, den Krankenhäusern, den Pflegeinstitutionen, also der warenförmigen Reproduktionsarbeit, zurück und überließ all dies Unternehmen, auf der verzweifelten Suche nach neuen profitablen Investitionen. Da es sich in diesem Bereich jedoch um wenig profitable Geschäfte handelt, pressen die Kapitale seitdem den dort Beschäftigten jedes bisschen Mehrwert ab. Die Prekarisierung der Lohnarbeitsverhältnisse – insbesondere dort, wo Alte umsorgt, Babys gefüttert, Menschen mit Behinderung unterstützt und Flure gereinigt werden – ist also eine unmittelbare Folge dieser seit den 1970er Jahren anhaltenden strukturellen Krise des Kapitals. Dies bedeutet: Verelendung, vor allem von Frauen, die diesen Bereich überwiegend stemmen.

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung nach mehr Sozialstaat, die Hoffnung auf Absicherung, Entlastung und Regulierung sinnvoll. Allerdings ist ebenso zu konstatieren, dass vor dem Hintergrund aktueller Krisenentwicklung eine Rückkehr zum Sozialstaat nicht möglich ist. Denn bei der Forderung nach einem starken Sozialstaat bleibt allzu oft außen vor, dass der Kapitalismus den realpolitischen Forderungen auch enge objektive Grenzen setzt – jene der national-staatlichen Konkurrenz auf dem kapitalistischen Weltmarkt. Wollen wir also, dass aus dem „gut“ ein „gut genug“ wird, müssen wir uns zwangsläufig Gedanken über Alternativen zum Kapitalismus machen. Daher schwebt uns da aus einer feministischen und communistischen Perspektive noch etwas anderes vor: ein ganz anderes Anderes!

Lösung Kleinfamilie. Nicht.

Aktuell verhandelte Lösungen dieser Verelendung in der Reproduktion sind für uns keine Lösungen. Während die einen sich weiter an der Vereinbarkeit von Beruf und Familie abstrampeln müssen, die anderen in der privilegierten finanziellen Situation sind, die Betreuung von Baby oder Oma an prekär beschäftigte (migrantische) Hilfskräfte outzusourcen, propagieren Konservative die Kleinfamilie als Lösung, um die Lücke, die der Staat hinterlässt, zu füllen.

Dabei ist die Kleinfamilie ein völlig verklärtes Gebilde, ein Mythos dieser Gesellschaft, in dem das patriarchale Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Dieser Mythos hatte ehemals durchaus seinen rationalen Kern darin, dass das bürgerliche Geschlechterverhältnis entlang der Kategorien von Produktion und Reproduktion verlief und mindestens ein ganzes Jahrhundert hindurch in dieser Form notwendig für den Kapitalismus war: Die Frau, die sich um die Kinder kümmerte und zu Hause das Kissen aufschüttelte, auf das der Mann nach getaner Arbeit sein Haupt betten konnte – sie erhielt im Privaten die Arbeitskraft, er war „da draußen“ produktiv. Dieser Kern macht die Entzauberung so verdammt schwer. In der Sehnsucht nach der heilen Welt von Vater, Mutter und zwei Kindern drückt sich eine banale heteronormative und sexistische Vorstellung davon aus, was Mensch-Sein bedeuten soll. Und so wünscht sich der bürgerlich-konservative Geist die „guten alten Zeiten“ zurück. Doch diese rückwärtsgewandte Schwärmerei ist nichts als Illusion, denn die Kleinfamilie ist als Ideal eben immer auch ein bürgerliches Ideal gewesen, das erst nach und nach alle umfasste: Durch Senkung der Löhne für Frauen und Schaffung des „Ernährergehaltes“ für den Mann setzte sich dieses Modell im 20. Jahrhundert auch in ArbeiterInnenfamilien durch und wurde individuell und gesellschaftlich als soziale Errungenschaft gefeiert. Für proletarische Frauen war die Doppelbelastung, sich gleichzeitig um Kind und Fabrikarbeit kümmern zu müssen, in der Industrialisierung bereits bittere Realität – nicht erst seit 1977, als die „Hausfrauenehe“ abgeschafft wurde. Die einfache Zuordnung des Mannes zur Produktion und der Frau zur Reproduktion ist dementsprechend immer auch Geschichtsfälschung. Will sagen: Kleinfamilie hat schon immer die Funktion eines psychologischen und ideologischen Trostpflasters gehabt, um den Widerspruch von Produktion und Reproduktion abzufedern.

Im postfordistischen Kapitalismus, also der in den 70er Jahren aufgekommenen Flexibilität der Arbeitsorganisation, ist die Kleinfamilie mit ihrem Ein-Ernährer-Modell kaum noch denkbar. Sich selbst zu optimieren und die Arbeitskraft zu Markte zu tragen, ist längst ein Imperativ für alle geworden. Und währenddessen gibt’s noch immer keine Lösung für diese Sache mit der Reproduktion: Dass sich zugleich der Abwasch nicht allein erledigt, der Müll nicht von selbst in der Tonne landet und das Kind auch nicht eigenmächtig das Breichen kocht, liegt auf der Hand – all das wird zumeist immer noch von Frauen erledigt. Von Frauen, die entweder – immer knapp am Limit – Lohnarbeit nachgehen und die Reproduktionsarbeit erledigen. Oder denen, die diese Aufgaben als Dienstleistung übernehmen, weil andere Frauen finanziell in der Lage sind, die Reproduktionsarbeit zu Lasten von meist Deklassierten und Migrantinnen auszulagern (wie übrigens auch bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert schon). Während die Bio-Eier kaufende Beamtin also dem Bild des aktuellen Gender-Mainstreaming-Programms entsprechen kann, gibt es für prekarisierte Migrantinnen, mit Homophobie kämpfenden Lesben, für Frauen, die aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit niemals auch nur in die Nähe eines Aufsichtsrates kommen werden, überhaupt keine Optionen.

Die Sache mit der Gleichzeitigkeit:
Liberalisierung der Öffentlichkeit sowie Homophobie und Antifeminismus

Von feministischen Initiativen und Kämpfen wurde in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, dass weite Teile dessen, was vorher durch unbezahlte Reproduktionsarbeit meist von Frauen in Familien geleistet wurde, durch den Staat – also durch öffentliche Institutionen wie Kitas oder Altenheime – übernommen wurde. Damit war zugleich ein Familienmodell in Frage gestellt, welches eine klare Aufgabenverteilung nach Geschlecht vorsah. Mit dieser Liberalisierung des Familienmodells ging nicht nur ein materieller, sondern auch ein ideologischer Wandel einher. Das hat viel damit zu tun, dass feministische und LGBT-Kämpfe2 ein gesellschaftliches Bewusstsein für Sexismus, Schwulen- und Lesbenhass sowie Transphobie geschaffen haben. Die Verhältnisse – zumindest auf der formal-rechtlichen und institutionellen Ebene – sind heute etwas besser für Frauen, Lesben, Schwule:3 Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1997 unter Strafe gestellt, Homosexualität ist nicht nur nicht mehr verboten, sondern gesetzlich fast schon gleichgestellt und die Familienpolitik ist längst über die 50er Jahre hinausgekommen.

Doch gibt es in Europa und darüber hinaus genügend gesellschaftliche Kräfte, die diese Entwicklungen torpedieren wollen – oftmals gar in staatlicher Position: Sie sehen nicht nur die Kleinfamilie, sondern gleich die gesamten „Werte des Abendlandes“ in Gefahr. In Frankreich fordern seit 2012 Hunderttausende (von RepublikanerInnen über Konservative bis hin zu (Klerikal-)FaschistInnen), dass es keine Ehe für Homosexuelle, kein Adoptionsrecht für schwule und keine künstliche Befruchtung für lesbische Eltern geben solle. Diese Mobilisierungen haben ein gesellschaftliches Klima erzeugt, in dem die Zahl überfallener Lesben und Schwule massiv gestiegen ist – die verbale Gewalt ist längst in körperliche umgeschlagen. Mittlerweile haben die Konservativen ein weiteres Feld für ihre Vorstellung von Verteidigung der Kleinfamilie gefunden: Sie wenden sich gegen das ABCD de l’égalité (ein Gleichstellungsprogramm für den Schulunterricht) der Regierung und fürchten den geschlechtslosen Menschen der théorie du genre.4 In Baden-Württemberg organisierten sich in den letzten Monaten Gegner der „sexuellen Vielfalt“ im Lehrplan nach französischem Vorbild, um gegen die „Ideologie des Regenbogens“ mobil zu machen.

Wenn konservative bis klerikale Deutungen Eingang in staatliche Politik finden, wird Frauen und LGBT zumeist knallhart der Boden unter den Füßen weggezogen: In Serbien wurde die Gay Pride seit 2010 immer wieder massiv von (Klerikal-)FaschistInnen angegriffen und schließlich durch den Staat verboten. Die Verschärfung der Abtreibungsgesetze wie aktuell in Spanien, wo der Partido Popular eines der liberalsten in eines der schärfsten Europas umwandelt (einem faktischen Abtreibungsverbot), ist ein Zugeständnis der Regierung an die konservative WählerInnenschaft. In Deutschland pusht die Merkel-Regierung mit der „Herdprämie“ ein Familienmodell, das einerseits wieder Erziehung und Betreuung von Kindern in der Kleinfamilie propagiert und andererseits de facto dazu führen soll, dass ein Ein-Ernährer-Modell mit klarer Rollenverteilung zurückkehrt: mit der Mutter am Herd. Und die CSU machte im März 2013 als Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Homo-Ehe klar, dass „Ehe und Familie auch in Zukunft besonders privilegiert, gefördert und geschützt“ werden sollten.

So wie diese Gesellschaft organisiert ist, gibt es einen Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion. Und zentral dafür, wie mit diesem Widerspruch umgegangen wird, sind die ideologischen Deutungskämpfe um die bürgerliche Kleinfamilie. Die Beispiele zeigen, dass die Entwicklung des Umgangs mit diesem Widerspruch nicht geradlinig verläuft, sondern je nachdem, wie es um gesellschaftliche Deutungs- und Kräfteverhältnisse bestellt ist. Im Moment scheint eine Gleichzeitigkeit zu bestehen – obwohl Homophobie und Antifeminismus gesellschaftlich so diskreditiert sind wie vielleicht noch nie zuvor und obwohl staatliche Gleichstellungsprogramme reale Verbesserungen erwirkt haben, gehen Homophobe und AntifeministInnen auf die Straße, radikalisieren sich und scheinen damit breite Teile der Bevölkerungen zu umfassen. Dieser Ausdruck ist kein krisenbedingter Backlash, wie so oft vermutet, sondern wir denken, dass es sich um ein Nebeneinander in den gesellschaftlichen, staatlichen und Subjektformen handelt.

Eine communistische und feministische Gesellschaftskritik…

Die Frage ist also ganz aktuell: Wer setzt sich mit welchem Modell von Geschlecht, Sexualität, Familie und Gesellschaft durch? Dass wir diese Frage auch kapitalismusimmanent aufwerfen, verweist darauf, dass für uns „etwas besser“ zunächst „gut“ ist. Dass wir aber zugleich auf den strukturellen Zusammenhang von Schwulen,- Lesbenhass, Transphobie, Sexismus und Kapitalismus verweisen, betont, dass „gut“ für uns noch nicht „gut genug“ ist. Dafür sind Elend, Gewalt und Angst zu sehr prägende Facetten dieser Gesellschaftsform.

Dass Frauen im 21. Jahrhundert Bourgeoise und Citoyenne sein können ist eine Errungenschaft,5 denn im Gegensatz zum 19. Jahrhundert weitet dies das liberale Glücksversprechen auch auf Frauen aus. Doch auch hier gilt, dass „gut“ nicht „gut genug“ ist: Feminismus bedeutet nicht, den ganzen Haufen an Zumutungen nur mitzumanagen. Denn dieser Fortschritt bleibt der Beschissenheit kapitalistischer Verhältnisse verhaftet. Daran sollte eine feministische und communistische Gesellschaftskritik anknüpfen.

Und auch wenn die Kleinfamilie als Reaktion auf gesellschaftliche Entfremdung6 das Versprechen beinhaltet, dass es einen Ort geben könnte, an dem man als Person geliebt wird in Absehung von Leistung und Funktion, wollen wir perspektivisch über sie hinausgehen: Die Kleinfamilie, dieser Ort gesellschaftlicher Zurichtung, Legitimationsgrundlage für Institutionen der Religion und des Konservatismus, diese psychologische Tortur könnte in einer anderen Gesellschaft ersetzt werden durch Wahlverwandtschaften.

… und die Sehnsucht nach dem guten Leben

Das Gesagte zeigt: Jeder Tag ist Frauenkampftag! Die Verhältnisse sind immer Geschlechterverhältnis & Kapitalverhältnis. Eine Gesellschaftskritik muss demnach notwendig eine feministische sein. Eine feministische und communistische Gesellschaftskritik müsste eine globale Perspektive einnehmen. Dies müssen wir gemeinsam diskutieren und weiterentwickeln.

Unsere Bedürfnisse radikal zu formulieren und uns nicht mit minimalen Verbesserungen zufrieden zu geben, speist sich aus der Hoffnung, dass Menschsein vielleicht mehr bedeuten könnte als der autarke, selbstbeherrschte und stets rationale männliche Charakter des Homo Oeconomicus. Produktion soll unserer Idee nach zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung betrieben werden, nicht zum Zwecke der Mehrwertschöpfung – Reproduktion hat dieser Idee nach einen ganz anderen Stellenwert, wird nicht mehr Anhängsel der Produktion sein. Wir wollen eine Gesellschaft, die den Widerspruch von Reproduktion und Produktion nicht kennt, in der das Schöne verwirklicht werden kann. Das Ende der Arbeit würde bedeuten, neue Vermittlungsformen zu suchen zwischen den Bedürfnissen der Menschen, neue Möglichkeiten zur vollständigen Verwirklichung menschlichen Potentials jenseits der Frage von Verwertbarkeit. Das bedeutet zugleich: Verhältnisse, in denen die Individuen frei sind und nicht die Unfreiheit der anderen brauchen.

Wir wollen ein ganz anderes Anderes und sagen: Etwas besser ist nicht gut genug. Denn ohne Hoffnung auf Veränderbarkeit der Welt lässt sich schwer leben.

 

Fußnoten

1 So nennt es Roswitha Scholz in ihrem Text „Die Verwilderung des Patriarchats in der Postmoderne“, in dem sie diese Entwicklung gut und ausführlich analysiert. Im Internet zu finden unter: http://www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren&index=23&posnr=3…

2 LGBT steht für „Lesbian Gay Bisexual Transgender“

3 Was für Transmenschen kaum gilt, schließlich müssen sie auf dem Weg ihrer Transition (zum Beispiel Operation und Namensänderung) immer noch krasse psychologische und rechtliche Verfahren durchlaufen. Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass es eine so enge Verknüpfung von Reproduktion und Produktion mit Geschlechterrollen und Zweigeschlechtlichkeit gibt – wer in der Zweigeschlechtlichkeit nicht aufgeht, muss mit hassvollen Sanktionen rechnen. Dies lässt sich zum Beispiel am sogenannten Transsexuellengesetz aufzeigen.

4 Die Kritik an „Gendertheorien“ kommt von Seiten der homophoben und antifeministischen Bewegungen auch oft verschwörungstheoretisch daher.

5 Dass sie also endlich auch Subjekte im bürgerlichen Sinne sind – Wahlrecht für Frauen etwa hat es in europäischen Staaten zum Teil erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts gegeben.

6 Wichtige Quellen stellen für uns in diesem Zusammenhang Karl Marx und die Situationistische Internationale dar.

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„Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ – Nie geführte Interviews mit Jean Améry

Eine Reise durch die Zeit und durch die Realität. Radio-Interviews, die nie geführt wurden und doch etwas zu sagen haben.

Wir haben den Schriftsteller und Philosophen Jean Améry gefragt und seine Texte haben uns geantwortet. Améry kämpfte in der Résistance gegen den National­sozialis­mus und überlebte die Konzentrations­lager Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. 1978 wählte er den Freitod. Was wir von Améry wissen wollten und warum, haben wir in diesem fiktiven Interview zusammengetragen. Erstmals vorgestellt haben wir es als dreiteiliges Radio­feature am 26. Januar und 9. Februar 2011 im Stadtradio Göttingen.

Im ersten Teil des fiktiven Interviews geht es um Leben und Überleben Amérys, um Antisemitismus und die jüdische Identi­tät, die Améry von den Nazis aufgezwungen wurde.

Im zweiten Teil des fiktiven Interviews geht es um die Schuld der Deutschen und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit, um Geschichts­revisionis­mus, Israel und Amérys Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Linken.

Nach der Ausstrahlung des zweiteiligen fiktiven Interviews mit dem Schriftsteller, Philosophen und Shoah-Überlebenden Jean Améry stehen wir Rede und Antwort zu dem Projekt. Ein Gespräch über Motivation, Ziele, Vorgehen und Schwierigkeiten.

Hier ist es noch einmal nachzuhören.

Eine Veranstaltung im Rahmen des Bündnisses zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Göttingen – 27.Januar.

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Die Shoah im Kino – Wie das Unvorstellbare zum Spielfilmthema wird

Spielfilme über den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden haben Konjunktur. Was 1978/79 mit der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ begann, findet seit den 90er Jahren in immer schnellerer Folge seine Fortsetzungen – von „Schindlers Liste“ über „Das Leben ist schön“ bis zu „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Welche Rolle spielen derartige publikums­wirksame Filme bei der Erinnerung an die Shoah? Welches Bild der NS-Vergangenheit wird dabei gezeichnet? Und ist die Darstellung des Unvorstellbaren überhaupt angemessen möglich?
Diesen Fragen widmet sich eine Broschüre, die aus dem Göttinger Bündnis „Gedenken an die Opfer des National­sozialismus – 27. Januar“ heraus entstanden und von uns (damals noch OLAfA) auf einer zugehörigen Veranstaltung 2010 vorgestellt wurde.

Die Broschüre kann hier heruntergeladen werden.

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