Wie das Gewitter in der Wolke

In jüngster Vergangenheit entlud sich erneut die geballte antisemitische Wut auf den Straßen. Nicht nur in der BRD wurden israelische Flaggen verbrannt, vor Synagogen aufmarschiert oder Juden und Jüdinnen direkt angegriffen. Doch, so ließe sich vermuten, waren es nicht überwiegend deutsche Neonazis, die wie einst in Chemnitz im Mob aufmarschierten, sondern, so ließ sich beobachten, bestimmten neben Palästina-Fahnen, türkische, jordanische, libysche, syrische und kurdische Fahnenschwenker_innen das Bild. Neben eindeutigen Symbolen türkischer Faschisten, wie den grauen Wölfen, konnte man Menschen eingehüllt in Tücher beobachten, auf denen das islamische Glaubensbekenntnis prangerte. Liefen da Sympathisant_innen der palästinensischen Terrorbande Hamas in einer Reihe mit selbsternannten Antifaschist_innen, die Spannbreite reichte auch hier von ewiggestrigen Antiimperialist_innen und Rotfrontkämpfer_innen über (postmoderne) Anti-Rassist_innen bis hin zu selbsternannten Friedenaktivist_innen. Es ist wieder einmal deutlich geworden, dass es nicht viel braucht, um die Feind_innen Israels aus ihrer „Deckung“ zu locken.[1]

Die Realität ist komplex. Sicher, um Realität zu verstehen, kommt man nicht umhin, zu vereinfachen. Lässt man allerdings zu viele Informationen weg, verfremdet man den Gegenstand der Betrachtung irgendwann nur noch bis zur Unkenntlichkeit. Gleichwohl stellen wir fest, dass die postmoderne Popkultur sich genau dieser Mechanismen allzu oft bedient. Identitäre Kämpfe werden häufig mit einem fast kindlich anmutenden Gerechtigkeitsempfinden in den sozialen Medien ausgetragen: Ob man zum israelischen oder palästinensischen Team hält, zeigt sich etwa da, wo man auf „Tiktok“ nach links unter das palästinensische Flaggenemoji oder nach rechts, unter das Emoji der israelischen Flagge tanzt. Zum Abschluss wird dann keck mit dem Badelatschen das blau-weiße Flaggenemoji weggeklatscht, symbolisch also der Staat Israel einfach beseitigt.

Vor wenigen Wochen so schien es, wimmelte es weltweit nur so von Nahost-Expert_innen. Es war zu beobachten, wie Menschen jeden Alters, die bisher niemals mit Äußerungen zu (internationaler) Politik auffielen, geschweige denn Sachkenntnis zur Geschichte Israels aufzuweisen hätten, oder aber solche, die überall ihren Hypernationalismus auszuleben trachteten, ihre als Meinung getarnten Ressentiments in die Welt hinausschrien. Einig waren und sind sie sich über eins: Israel ist schuld. Israel ist ein Aggressor. Israel ist ein Besatzer. Israel ist der Kern allen Übels. Israel = Böse, „Palästina“ = Gut – So weit so schlicht.

So decken sich unsere Beobachtungen wohl mit denen Alex Feuerherdts, der die postmoderne Strömung beschreibt als eine, „die keine historischen Tatsachen mehr kennen will, sondern nur noch gleichberechtigte „Narrative“, also subjektive Erzählungen von „Betroffenen“ ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt.“ Er diagnostiziert weiter: „Ist dieser Ansatz ganz grundsätzlich mehr als fragwürdig, so führt er in Bezug auf den „Nahostkonflikt“ absichtsvoll zu einer Dämonisierung und Delegitimierung Israels.“ (Alex Feuerherdt (2011): „Mythos Nakba“ Die Entstehung Israels – Legenden und Wirklichkeit – Vortrag, abgerufen unter: http://www.deutsch-israelische-gesellschaft-freiburg.de/attachments/File/Mythos_Nakba_Freiburg.pdf)

Um es deutlich zu machen, nicht jede_r, Position die/der angesichts der Ereignisse ein Ende der Gewalt herbeisehnt, soll hier widersprochen werden. Im Gegenteil muss der Wunsch nach Frieden immer ein legitimer sein. Wer allerdings die benannten Narrative bedient und auf den dazu passenden Demonstrationen mitläuft, macht sich gemein mit den antisemitischen Schergen dieser Welt.

In diesem Sinne meint jenes Geschwätz von „Antizionismus“ auch nichts anderes als unverhohlenen Antisemitismus. Der Unterschied besteht lediglich in der Umwegkommunikation über vermeintliche „Israelkritik“. Denn hier wird nicht irgendeine konkrete Politik irgendeines beliebigen Staates kritisiert. Nicht wegen des jahrelangen Zwangswehrdienstes im krisengeschüttelten Eritrea findet man sich im Internet und auf den Straßen zusammen, auch nicht, weil die globale Corona-Impfpolitik den sogenannten globalen Süden benachteiligt. Nein, es geht ums Ganze: das Existenzrecht Israels wird konsequent verneint und somit der jüdische Zufluchtsstaat als notwendige Konsequenz der Shoah bedroht.
Ein antisemitisches Narrativ findet sich ebenfalls dort, wo die Realität so weit verdreht und verkürzt wird, dass historische Zusammenhänge wie die über tausend Jahre andauernde antijüdische Gewalt, die in der weltweiten Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden in der Shoah ihren Höhepunkt fand, nicht mit der Existenz des Staates Israel als progressiven Akt in Verbindung stehend gesehen wird. Das dies leider kein „Tiktok-Einzelfall“ ist, sondern ein immer wieder gern genutztes Mittel zur Verzerrung der Tatsachen, lässt sich in unzähligen Beispielen darlegen. So etwa dann, wenn die Verteidigung der Bürger_innen eines demokratischen Staates gegen Terrorangriffe als Krieg zwischen zwei Parteien bezeichnet wird. Oder aber dann, wenn von „israelischen Massaker[n] durch die hochgerüstete Armee an der Bevölkerung von Gaza und die ethnischen Säuberungen in Jerusalem“ (Erklärung internationalistischer, migrantischer Linker in Göttingen, Quelle: Instagram bipoc_kollektiv_goe) die Rede ist. Weder kann bei diesem Konflikt von einer „Vertreibung“ noch von einem „Massaker“ gesprochen werden. Dazu genügt bereits ein Blick ins Lexikon. Dass der Rechtsstreit um die häuslichen Heimaten der palästinensischen Familien auf einer individuellen Ebene Leid verursacht, darüber muss nicht diskutiert werden. Aber macht es das schon zu einer „ethnischen Säuberung“?

Anlässlich der massiven Raketenangriffe (über 4000) auf die israelische Zivilbevölkerung und der vielen Geschosse (ca. 450) auf die eigene palästinensische Bevölkerung (die Geschosse schafften es nicht über die Grenzen und gingen im Gazastreifen nieder) durch die Hamas lässt sich an einer Verhältnismäßigkeit doch stark zweifeln. Da erscheint es fast wie ein strategisches Kalkül, können doch so die „eigenen“ Opfer dem Nachbarstaat praktischerweise als immer währendem „Kindermörder“ in die Schuhe geschoben werden. Nicht fehlen darf in dieser Logik die Bezugnahme auf die Staatsgründung Israels als den Akt einer „kolonialistischen Besatzungsmacht“, welche sich breit macht auf „eigentlich palästinensischem Land“. Diese ebenfalls nationalistische Erzählung bot schon immer guten Stoff und gilt als eines der Hauptnarrative im Nahostkonflikt. Sie verkennt jedoch, dass seit jeher sowohl jüdische als auch arabische (mitnichten immer palästinensische) Menschen auf dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet lebten. Interessant ist darüber hinaus die Tatsache, dass für fast alle geflüchteten Menschen weltweit die UNHR zuständig ist, für die geflüchteten Palästinenser_innen hingegen ausschließlich die UNRWA, die neben der Finanzierung antisemitischer Hetz-Schulbücher auch am sogenannten Rückkehrrecht aller ursprünglich geflüchteten und nachgeborenen Palästinenser_innen in israelisches Staatsgebiet festhält.[2] Dies würde nicht nur ein Ende eines jüdischen Staates bedeuten, sondern verhindert darüber hinaus die Integration der meist seit Jahrzehnten in Flüchtlingscamps darbenden Palästinenser_innen in den arabischen Nachbar- und (Zu)Flucht(s)ländern.

Antisemitismus ist die Halbwahrheit und „das Gerücht über die Juden“. Diese Gerüchte und verstümmelten Realitäten werden medial in die Welt gespien und von linken, rechten und bürgerlichen Antisemit_innen und einfältigen Freund_innen der manichäischen „Robin-Hood-Romantik“ dankbar aufgegriffen: Israel, der Jude unter den Staaten, den Vernichtungsfantasien seiner Gegner_innen nur durch militärische Stärke trotzend, das muss doch der dämonische Goliath sein. Und der kleine gerechte David, das passt doch gut auf das propagierte Bild der Palästinenser_innen. So wären wir wieder angekommen in den 2000er Jahren, in denen es noch einfach war. Da wusste die Linke noch, dass man sich nur mit den scheinbar Unterdrückten der Welt solidarisieren musste, um irgendwie „auf der richtigen Seite“ zu stehen. Insofern ist der Nahostkonflikt doch auch bloß ein Klassenkonflikt und die Fronten sind geklärt. Dass auch ein vermeintlich linker Befreiungsnationalismus nie eine gute Idee und die palästinensische „Sache“ ultranationalistisch (ehemals panarabisch) bis islamistisch ist, stört die heutige ebenso wenig wie die einstige Linke. Dass sich die internationale Rechte und die international(istische) Linke jedweder Couleur gegen Israel zusammenfinden, wird vielfach ebenso wenig kritisch gesehen, wie deren gemeinsame Sache mit Nationalist_innen und Islamist_innen. Die Leidtragenden dieser unsäglichen antisemitischen Identitätspolitik sind nicht nur Israelis und Palästinenser_innen, sondern auch Juden und Jüdinnen weltweit, die sich der ganz realen Bedrohung des Mobs ausgeliefert sehen.

Auch wenn sich eine vermehrte Bereitschaft der öffentlichen Positionierung gegen Antisemitismus und Judenhass vernehmen lässt, ist doch die Anzahl jener, die sich „gegen Israel“ in Stellung bringen, um ein Vielfaches höher. So bleibt der große Aufschrei aus. Insbesondere die deutsche Linke scheint entweder in einer Art Schockstarre zu verharren oder diskutiert vielleicht noch darüber, mit wem man ein potenzielles Bündnis in der Zukunft mehr verschmerzen kann. Vielleicht ist es aber auch die Angst, plötzlich doch nicht mehr so weit von den unliebsamen Konservativen entfernt zu sein und so belässt man es bei dezenten Bittrufen.
Dabei wäre es, wenn es nicht schon zu spät ist, doch höchste Zeit, sich jedem Antisemitismus entgegenzusetzen. Denn was leider immer noch gilt, sind die weisen Worte eines leider viel zu früh von uns gegangenen Jean Améry: „Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstbestreitung der Linken ist gekommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist, um in der vom Thema erzwungenen Terminologie zu bleiben. (…) Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus. Wie sagte Sartre vor Jahr und Tag in seinen „Überlegungen zur Judenfrage“: „Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden.““ (Jean Améry (1969): Der ehrbare Antisemitismus)

[1] Antisemitismus allerdings als ausschließlich „importiertes Problem“ darzustellen, wie wir es ebenfalls beobachten konnten und damit rassistische Denkmuster zu bedienen, ist ebenfalls falsch. Dies lenkt davon ab, den Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten – unser Kampf gilt jedem Antisemitismus.

[2] Die Anzahl der Menschen, denen in diesem Sinne ein Rückkehrrecht zugesprochen wird, entwickelte sich über die Zeit von 470 000 auf 4,5 Millionen Menschen (Progress Report des Vermittlers der Vereinten Nationen für Palästina, dem Generalsekretär zur Weiterleitung an die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen übergeben; offizielle Berichte der Vollversammlung: Dritte Sitzung, Ergänzung NO. 11 (A\648), Paris 1948, S. 47 und Ergänzung No. 11A (A\698 und A\689\Add.1, S. 5.).

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