Redebeitrag anlässlich des CSDs 2019 in Göttingen

Wir sind heute hier, um den ersten CSD in Göttingen zu begehen, dessen Geschichte bereits vor 50 Jahren in New York begann. In den 1960er Jahren war homophobes und transfeindliches Handeln der Polizei in New Yorker Bars und Nachtclubs Alltag. Prägend für den CSD waren damals die Ausschreitungen im Stonewall Inn, wo sich homo- und transsexuelle Jugendliche gegen die sexistischen Razzien der Polizei wehrten.

Seitdem hat sich viel getan. Wir sind gesellschaftlich wesentlich anerkannter, leiden trotz juristischer Ungleichbehandlung nicht mehr so sehr unter staatlicher Repression und mittlerweile dürfen Homosexuelle in Deutschland sogar heiraten, wenn sie das denn wollen. Doch für jede dieser noch so kleinen Verbesserungen haben wir uns selbst zu danken, denn sie mussten hart von emanzipatorischen Bewegungen erkämpft werden.

Wir sind heute hier, um genau das zu feiern: Im Angesicht reaktionärer gesellschaftlicher Entwicklungen sind wir aber auch hier, weil es weiterhin notwendig ist, diese Errungenschaften zu verteidigen und deutlich zu machen, dass der politische Kampf noch längst nicht vorbei ist! Er ist auch deshalb nicht vorbei, weil es uns nicht (nur) um die formale/rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen und Heterosexuellen oder von Frauen und Männern geht.

Feministisch Kämpfen bedeutet für uns…

…zum einen eine Analyse der Gesellschaft, ihrer Grundlagen, Produktionsweisen und historischen Entwicklung. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Form unserer heutigen Gesellschaft nicht natürlich ist, sondern erst im Laufe der Zeit zu dem wurde, was wir heute kennen. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Kapitalismus, das bedeutet nach Maßstäben zu produzieren, in denen systematisch keine Rücksicht auf die Menschen und ihre Umgebung genommen wird. Primäres Ziel der Produktion ist damit die anhaltende Mehrwertproduktion mit Hilfe der Ausbeutung von Menschen und Natur. Daraus resultieren zwangsläufig Armut, Ungleichheit und die massive Zerstörung unserer Umwelt.

Bevor sich der Kapitalismus entwickelte, gab es aber natürlich auch schon Unterdrückungsverhältnisse. Sie haben sich mit seiner Entstehung aber verändert und eine ganz spezifische und neue Form angenommen. Werfen wir einen Blick auf die Unterdrückung der Frau. Das Patriarchat ist weit aus älter als der Kapitalismus, aber auch seine Unterdrückung wandelte sich im Zuge kapitalistischer Produktion: vermeintlich weibliche Eigenschaften wie Fürsorglichkeit und Emotionalität erfahren systematisch Abwertung und wurden im Laufe der Zeit in den Bereich des Privaten verdrängt. Dagegen versprechen männlich konnotierte Attribute wie Stärke und Durchsetzungsfähigkeit Erfolg im Kampf des kapitalistischen Alltags. Wie diese Abwertung im Kapitalismus konkret passiert, kann sich mit der Zeit wandeln – die Abwertung selbst ist für den Kapitalismus allerdings grundlegend. Solange der Profit die oberste Maxime ist, wird unproduktives strukturell als schwach abgewertet und die Bedürfnisse einzelner sind zweitrangig, müssen im Privaten ausgehandelt werden. Wer sich den Bedingungen des Kapitalismus nicht anpasst, kommt unter die Räder. So eine Gesellschaft ist doch mies! Für uns ist deshalb klar: Eine feministische Gesellschaft, frei von Unterdrückung egal welcher Lebensentwürfe können wir nur ohne den Kapitalismus erreichen!

Während das Ende des Kapitalismus und die Befreite Gesellschaft leider auf sich warten lassen…

… fordern wir im Hier und Jetzt – und heute auch beim CSD – praktische Solidarität mit allen, die Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer geschlechtlichen Identität oder gesellschaftlichen Position erfahren. Es geht uns um politische und gesellschaftliche Teilhabe Aller! Es geht darum, politische Praxis für Emanzipation und gegen Kapitalismus und Patriarchat zu entwickeln. Deshalb kämpfen wir gegen die Feinde des guten Lebens – die völkische Rechte, christliche und islamische Fundamentalist_innen!

Ihnen allen ist gemein, dass sie nach patriarchaler Herrschaft streben. Ihr Ziel ist ein Kollektiv auf Grundlage von völkischen oder religiösen Werten einzurichten, in dem es keinen Platz für Menschen gibt, die von diesen Werten abweichen.

So imaginiert sich die völkische Rechte einen Volkskörper herbei, zu dem nur die gehören dürfen, die seinen biologistischen Merkmalen genügen. Gestützt wird diese Ideologie durch ein christliches, heterosexuelles Weltbild, in dem jede Liebe verdammt wird, die nicht in der Bipolarität von Mann und Frau aufgeht. Während völkisch-rechte Gruppen von der Frühsexualisierung ihrer Kinder fantasieren, sobald diese sexuelle Vielfalt sehen, fühlen sie sich in ihrem Weltbild von Lesben, Schwulen, Transsexuellen, Queers oder einfach bloß Feminist_innen angegriffen – wir passen nicht in ihr Bild einer Gemeinschaft und ihrer Nation als Volkskörper. Dort ist die Frau noch immer die Gebärmaschine der Nation, während der Mann als Jäger und Sammler die Ernährung der Familie übernimmt. Dass christliche Fundamentalist_innen und völkische Rechte in den letzten Jahren vermehrt zusammenarbeiten ist nachvollziehbar. Der autoritäre Charakter patriarchaler Männer findet sowohl in der völkischen Gemeinschaft als auch in der religiös-fundamentalistischen Gruppe seine Erfüllung. Zu beobachten war das zuletzt auch in Göttingen im Rahmen einer geplanten Veranstaltung der Hochschulgruppe Reformatio 21. Hier wurde Michael Kiworr eingeladen, der nicht nur christlich motivierter Abtreibungsgegner ist, sondern zusätzlich für die AfD als Sachverständiger in gleicher Sache auftritt.

Es sind aber eben nicht nur christliche Fundamentalist_innen und die völkische Rechte, die unsere Freiheit mit allen Mitteln bekämpfen wollen. Politisch ebenfalls auf dem Vormarsch und mit radikalem Expansionswillen ist der Islam, indem ein männlicher Vorherrschaftsanspruch strukturell tief verankert ist. Im Unterschied zu völkischer Rechter und den Spinnern von Reformatio 21 begründen islamische Fundamentalist_innen ihr Kollektiv auf der Umma, der Gemeinschaft gläubiger Muslime. In ihrem Wertesystem haben sich Frauen per se unterzuordnen. Gleichgeschlechtliche Liebe sowie Transsexualität werden im schlimmsten Falle gar mit dem Tod bestraft, ebenso wie Nicht-Gläubigen oder Menschen, die dieser Ideologie nicht entsprechen, das Recht auf Leben abgesprochen wird.

Feminismus bedeutet für uns immer auch eine Kritik an Religion. Uns ist es wichtig, Religion nicht nur dort zu kritisieren, wo sie fundamentalistische Züge annimmt, sondern sie als das zu analysieren, was sie ist. Religion bedeutet immer auch die Verschleierung weltlicher Probleme durch ihre Auslagerung in eine übernatürliche Sphäre. Sie verstellt den Blick für die Realität und ermöglicht das Gefühl die Verantwortung dafür abzugeben, sich das eigene und gute Leben selbstbestimmt zu gestalten. In diesem Sinne ist für uns die Kritik der Religion die Voraussetzung erfolgreicher Emanzipation.

Lasst uns darum gemeinsam für einen linksradikalen, antikapitalistischen und solidarischen Feminismus streiten! Für die Freiheit und das gute Leben!

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