In den vergangenen Monaten gab es wieder vermehrt aufsehenerregende israelfeindliche und antisemitische Ausfälle in Deutschland: Die documenta fifteen, auf der fortlaufend Ausstellungsstücke mit antisemitischen Inhalten problematisiert werden, der Schlag ins Gesicht eines Mannes auf einer Demo in Hannover, weil er eine Israelfahne gehalten hat, die antisemitischen Slogans auf der internationalistischen Queer Parade in Berlin Neukölln und die Angriffe und das Entfernen von Pressevertreter:innen auf einer Demonstration von „Palästina Spricht“ in Berlin … Diese Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Eine breite Reflektion und kritische öffentliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist innerhalb der radikalen Linken dabei, auch in Göttingen, größtenteils ausgeblieben. So beispielsweise auch am Freitag den 16.09.22, als das BIPoC-Kollektiv den Film „Gaza fights for freedom“ von der Verschwörungstheoretikerin Abby Martin im Nachbarschaftszentrum Grone gezeigt hat. Anders als bei der israelfeindlichen Demonstration im vergangenen Jahr, deren Route an beiden jüdischen Gemeinden vorbeiführen sollte (natürlich ohne jeglichen Hintergedanken ;)), haben sich dieses Mal sogar tatsächlich einige linke Gruppen und Einzelpersonen zu der Filmvorführung verhalten. Statt sich aber gegen jeden Antisemitismus zu positionieren und dagegen auszusprechen, dass die Veranstaltung in dem Nachbarschaftszentrum Grone stattfinden soll, haben sie der Veranstaltung Reichweite durch liken und teilen auf Instagram verschafft.
Eine breite Front von beiden IL-Gruppen (Sozialistische Perspektive und Basisdemokratische Linke), Fridays For Future, AQUT*, der Soliküche und dem grünen Kreistagsabgeordneten Finn Kretschmer sieht scheinbar kein Problem darin, Werbung für eine Veranstaltung zu machen, auf der die de facto einzige effektive Schutzmacht für Jüdinnen/Juden in dieser Welt mit eindeutig verschwörungstheoretischem Geraune einseitig dämonisiert wird. Im Film werden, neben den üblichen ideologisch verblendeten Lügen über Gaza als einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt und der Hamas als heroisch kämpfenden Widerstands- und Befreiungsbewegung, auch eindeutig verschwörungstheoretische Behauptungen von der Produzentin aufgestellt: Es gäbe Pläne zur Schaffung eines „Groß-Israel“, das große Teile der gesamten Region des Nahen Ostens umfassen soll und die gesamte Weltpresse habe sich gegen die Palästinenser:innen verschworen. Dass viele Linke in solchen und ähnlichen Aussagen keinen Antisemitismus erkennen können oder wollen, wundert uns mittlerweile nicht mehr. Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, ist die Tatsache, dass offensichtlich weder das veranstaltende BIPoC-Kollektiv noch die digitalen Unterstützer:innen Willens oder in der Lage sind den Namen Abby Martin zu recherchieren. Eine kurze Suche fördert unter anderem zwei Videos zutage, die die Produzentin (damals noch RT-America Moderatorin) 2008 auf einer Demo der sogenannten „Truther“-Bewegung und 2014 als Gast in einer Youtube-Sendung ebenjener Bewegung zeigen. In beiden Fällen hat sie neben verschwörungstheoretischem Geschwurbel über „die da oben“ auch die bahnbrechende Theorie zu bieten, dass die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 ein „inside job“ der CIA gewesen sind.
Wir sind verwundert, dass die genannten Akteur:innen offensichtlich in ihrer politischen Analyse in der Lage sind, Verschwörungstheoreme im Zusammenhang mit Covid 19 und der „Neuen Weltordnung“ zu erkennen und dagegen vorzugehen, aber nicht, wenn tradierte antisemitische Narrative eines jüdischen Großreiches oder einer jüdisch kontrollierten Presse filmisch kommuniziert werden.
Statt einer kritisch analytischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des sogenannten „Nahen Ostens“, gibt es manipulativ emotionalisierende Darstellungen der, ohne Zweifel beschissenen, Lebensverhältnisse der Menschen in Gaza. Passend dazu sind auf dem Film-Screening auch noch Flyer der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft von 2013 verteilt worden, die einseitige und zum Teil schlicht falsche Behauptungen über die Jahre der Entstehung Israels 1947 und 48 enthalten.
Flyer und Film greifen die Behauptung auf, dass die Zahl der heutigen geflüchteten Palästinenser:innen auf 6 Millionen angewachsen sei (im Film wird von 10 Millionen gesprochen). Beide erwähnen nicht, dass der Status als geflüchtete Person durch die UNRWA (The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) von Eltern an die Kinder weitergegeben wird, eine Besonderheit, die weltweit einmalig ist. Ein Großteil dieser Personen ist also nicht aus Israel oder den palästinensischen Gebieten geflohen, sondern von geflüchteten Eltern oder Großeltern (ca. 750.000; 1948) geboren worden, was selbstredend nicht heißt, dass es ihnen gut gehen würde. Aber anders als behauptet, ist es nicht Israel das an den schlechten Lebensumständen schuldig ist, sondern die aufnehmenden Länder Syrien, Irak, Jordanien und Libanon, die diesen Menschen bis heute den Status als Bürger:innen verwehren (inkl. der dazugehörigen Rechte wie Arbeitserlaubnis oder Teilnahme an Wahlen). Für ihre Aufgabe hat die UNRWA übrigens 1,8 Milliarden $ zur Verfügung, während der UNHCR (zuständig für ALLE anderen Geflüchteten WELTWEIT) grade einmal 8,6 Milliarden $ zur Verfügung stehen, was darin resultiert, dass für palästinensische „Geflüchtete“ mit Abstand das größte Pro-Kopf-Budget aller Geflüchteten bereitgestellt wird.
Wohin das ganze Geld in Gaza aber geflossen ist, wenn, wie im Film dargestellt, die einfachen Leute nicht einmal genug zum Essen haben und von Lebensmittelspenden aus dem Ausland angewiesen sind, bleibt ein Geheimnis. Kaum der Rede wert ist natürlich, dass weder die offensichtliche Veruntreuung von Hilfsgeldern, noch die Proteste der Zivilbevölkerung gegen die Hamas (zuletzt 2019) eine Filmvorführung oder gar eine kämpferische Solidaritätsdemonstration nach sich ziehen. Am Ende sind für Linke im Westen, Abby Martin und auch für die arabischen Nachbarstaaten die Menschen in Gaza und im Westjordanland nicht mehr als eine Projektionsfläche. Anstatt alle Formen des Antisemitismus zu reflektieren, überwiegt der emotionale Wunsch mit Beißreflex auf der richtigen Seite zu stehen.
Um es mit Adorno zu sagen: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“